Kritiken

Groß und klein von Botho Strauß I

Badische Zeitung vom 18.03.2006

Odyssee durch die alte BRD

Robert Klatt inszeniert am Wallgraben Theater Botho Strauß´ frühes Stück "Groß und klein"


Wahnsinn: Das sagt heute keiner mehr, um seine Verwunderung, sein Staunen, seine Begeisterung zum Ausdruck zu bringen. Wahnsinn: So sprechen sie bei Botho Strauß Ende der 70er, als der Deutsche Herbst gerade vorbei war und die Bonner Republik insgesamt nicht im besten Zustand. Eine Komödie konnte das Stationendrama "Groß und klein" um den einsamen Weg der Lotte-Kotte aus Remscheid-Ennep ins soziale Abseits nicht sein.

Saarbrücken, Marokko, Essen, Hörnum auf Sylt und vielleicht auch noch Lüneburg. Kreuz und quer durch ein ungastliches, freudloses, kommunikationsgestörtes Land führt der damals 34-jährige Dramatiker einen verirrten Engel, der nicht aufhört, an das Gute in den Menschen zu glauben und ihnen seine ins Leere laufende Hilfsbereitschaft anzutragen. Man kann sich vorstellen, wie Peter Stein an der Berliner Schaubühne ?Groß und klein? zelebriert hat. Fünf Stunden dauerte die Uraufführung; die Fernseh-Verfilmung viereinhalb. Undenkbar heute.

 


Heute, 28 Jahre später, kann man auf Lotte-Kottes Odyssee durch die alte Bundesrepublik einen Blick zurückwerfen, der aus einem keineswegs nostalgischen Abstand das Lächerlich-Komische am (Sprach-) Gebaren jener seltsam aufgewühlten Zeit herauspräpariert. Robert Klatt (Regie und Bühne) hat sich am Freiburger Wallgraben Theater für eine konsequente Historisierung von ?Groß und klein? entschieden: Strauß´ Drama wird nicht als zeitloser Klassiker präsentiert, sondern in seiner Entstehungszeit verortet: Die Kostüme (Stefanie Kunert), das in den Farben Orange, Giftgrün und Lila schwelgende Dekor, die Musik: voll ? wie man heute sagt ? Retro. Wobei die technischen Möglichkeiten auf der Höhe unserer Zeit genutzt werden: Eine transparente Leinwand, auf die nicht nur die Titel der Szenen projiziert werden, sondern auf der auch einfallsreich mit einer Videoinstallation (Thomas Krohn) gearbeitet wird, ersetzt das Bühnenbild ? will sagen: erweitert den engen Raum der Kellerbühne ins Virtuelle. Das ist ziemlich genial und ein elegantes Spiel mit Grenzen, die nur durchlässig scheinen, wenn etwa Lotte, aufgeschickt mit falschen Wimpern, Goldtäschchen und Ohrgehänge, in Agadir zwei Männerstimmen hinterher lauscht, die man nicht hören kann: Dafür gibt die in ein mauretanisches Dekor getauchte ?Wand? den Blick auf die schemenhaften Figuren dahinter frei.


Auch Lottes Mann Paul (Götz Koch) bleibt auf diese Weise anwesend und abwesend zugleich: ein schönes Bild für dessen Unerreichbarkeit für Lotte, die ihm bis zum Ende (leider) nach- und anhängt, während er sich längst eine Geliebte zugelegt hat. Doch die Geschichte des Scheiterns einer Ehe schiebt sich nicht in den Vordergrund der Inszenierung. Das mag vor allem an Regine Effingers Lotte liegen. Eine Märtyrerin der Liebe ist sie mitnichten ? und auch kein Opfer der sozialen Kälte, die ihr auf der Durchreise nach Nirgendwo in den "Zehn Zimmern" eines Hauses und anderswo entgegenschlüge. Diese Lotte gleitet im kurzen Lackmantel wie ein Fisch durch alle spießigen Dumpfheiten ihrer Umgebung hindurch. Ihr unbestechlich offener Blick entlarvt all jene, mit denen sie Kontakt aufzunehmen versucht. Das ist reine, ziemlich ätzende Komödie. Sie funktioniert deshalb so gut, weil Strauß sich als genau beobachtender und hinhörender Gesellschaftssatiriker empfiehlt. Das ausnahmslos famose Ensemble ? Sybille Denker, Gabriele Zink, Peter Haug-Lamersdorf, Hans Poeschl und Heinz Meier ? wirft sich mit Lust in die Floskeln, die Kalauer, die manchmal auch verstiegenen Sätze des glänzenden Stilisten hinein. Da gerät manches zur kabarettreifen Nummer ? der Gitarrenspieler mit Langhaarperücke und ?Bad Moon Rising? oder die Diashow von Vater und heilsarmeeverdächtiger Tochter. Die ansteigende Verzweiflung der Heldin freilich geht in dem virtuosen Herbeizitieren der 70er einigermaßen unter. Nach der Pause wird man fast überrumpelt vom pathetischen Ausbruch Regine Effingers in der Episode ?Falsch verbunden? , wo sich eine ? für Strauß auch späterhin typische ? Wendung und Überhöhung des Geschehens ins Religiöse anbahnt. So verlangt einem die fast dreistündige Inszenierung gegen Ende einen Ernst ab, auf den man nicht vorbereitet war. Egal: Was für ein Brocken wurde hier leichthin über die Schulter geworfen! Was für eine bravouröse Leistung! (Bettina Schulte, BZ)


Wallgraben Theater
Das kleine Schauspielhaus in Freiburg

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