Kritiken

Der zerbrochne Krug von Heinrich von Kleist

Badische Zeitung vom 24.07.2009

Das Corpus Delicti ist ja nicht zu übersehen. In seiner ganzen missgestalteten Hässlichkeit ragt Adams Klumpfuß ins Bild, wenn er ihn stöhnend und ächzend über das Geländer der Steintreppe im Freiburger Rathausinnenhof wuchtet. Schuh kann man dieses monströse braune Gebilde mit abschüssiger Plateausohle kaum noch nennen: Mit so was geht man den Weg zur Hölle.

Oder klettert auf den Richterstuhl. Wenn der Bock zum Gärtner wird: Davon handelt Heinrich von Kleists Lustspiel "Der zerbrochne Krug", nach 1994 (mit Klaus Spürkel) zum zweiten Mal das Open-Air-Sommerstück des Wallgraben Theaters – und Heidemarie Gohde (Regie und Bühne) hat bei ihrer Inszenierung offenbar eine Frage umgetrieben: Wie zum Teufel ist es möglich, dass der Sündenfall des alten und neuen Adam, des verlobten jungen Mädchen lüstern nachstellenden Huisumer Dorfrichters, so lange unter der Decke gehalten werden kann?


Denn noch mehr mit Händen zu greifen ist es nicht, dass hier einer über sich selbst – und nicht, wie er vorgibt, über andere zu Gericht sitzt. Alle, wirklich alle Indizien sprechen gegen ihn. Schwerstens zugerichtet humpelt Hans Poeschl in weißem Unterzeug der Verhandlung entgegen, die seine Machenschaften ans Licht (nicht umsonst heißt Adams durchtriebener Schreiber so) bringen müsste, stattdessen mit einem krassen Fehlurteil endet. Die Wange blutunterlaufen, ein zweites Wundmal am – für eine solche Paraderolle müssen Opfer gebracht werden – kahlrasierten Hinterkopf, ein aufgerissenes Schienbein: Gezeichneter kann einer nicht sein, der auf frischer Tat ertappt und zwei übern Kopf gekriegt hat, bevor er ins Weinspalier stürzte, wo zu allem Überfluss auch noch seine Perücke hängenblieb. Zeig her deine Sünden: Ein Detektiv braucht hier keinen Spürsinn.


Und doch, oh Wunder: Es windet sich der Richter mit abenteuerlichsten Lügen und fadenscheinigsten Ausflüchten aus der Schlinge, die er sich selbst gelegt hat. Am Ende rettet ihn die "Ehre des Gerichts", jene gesellschaftliche Institution, deren unbestechlicher Repräsentant der Gerichtsrat Walter ist – Kleist hatte, wie man sieht, eine Vorliebe für sprechende Namen."Recht gut und treu" lautet – welcher Hohn – die Inschrift, die Adams überdimensionalen Richterstuhl ziert. Für dieses Instrument der Rechtsfindung ist dieser Staatsbeamte buchstäblich zu klein: Und so wirkt Poeschls herrlich bauernschlauer Adam, wie er auf dem Möbelstück herumlümmelt, mal lässig die Beine über die Armlehne wirft, mal auf der Sitzfläche ganz nach hinten rutscht und dabei wie ein Kleinkind aussieht, das mit den Füßen noch lange nicht den Boden erreicht, wie eine Karikatur seiner selbst. Überhaupt arbeitet die Regisseurin, die den Streitfall um einen zerbrochenen Krug aus den Niederlanden des 17. in die 20er Jahre des vergangenen Jahrhunderts verlegt hat (Kostüme: Eva von Reumont) mit Übertreibungen und grotesken Zuspitzungen: Am schönsten kommt die Überzeichnung ins Satirische bei Adrian Hagengurths messerscharf mittelgescheiteltem Schreiber Licht zum Tragen. Wenn er sich mit Beflissenheitsknieschlenker als Nachfolger Adams empfiehlt: In dieser kleinen choreographischen Geste bündelt sich eine ganze Aufsteigermentalität. Schön auch, wie die Sündenfarbe Rot als optisches Signal eingesetzt wird: von Adams Schuhsohlen über Lichts Kugelschreiber und Ruprechts Schnürsenkel bis zu Walters Merkbüchlein: Alles leuchtet. Aber nur ein bisschen.


Solche kleinen Details machen Freude und zeugen von der Genauigkeit, mit der hier gearbeitet worden ist. Freude macht auch der immer zartdunkler werdende Himmel über den Zuschauern und der Glockenschlag, der ins Spiel aufgenommen wird. Einmal fliegt ein einsames Glühwürmchen durch die Nacht. "Der zerbrochne Krug" ist bei allem tragischen Hintersinn einer universellen Vertrauenskrise (zwischen den Liebenden Ruprecht und Eve wie zwischen dem Bürger und "seinem" Staat) vor allem ein Fest für einen Schauspieler – und Hans Poeschl stürzt sich mit Verve und kontrollierter Spiellust ins komödiantische Fach: Sein Adam ist ein hinterfotziger Fiesling, der mit miesen Tricks und – zugegeben – blühender Fantasie seine Haut retten will. In Regine Effingers Marthe Rull steht ihm die selbstgerechte Empörung in Person gegenüber: Diese rechtschaffene Witwe lässt sich die Butter nicht vom Brot nehmen und die Stimme nicht verbieten – im Gegensatz zu Aline Joers’ verschüchterter Eve, ein armes Hascherl, das die böse Welt nicht versteht – erst recht nicht die plumpen Anschuldigungen ihres tumben Verlobten (Maximilian Popp), der nichts von ihrer Treue begriffen hat. Mit fast britischem Understatement gibt Christian Lugerth den Maître du Jeu. Gabriele Zinks Frau Brigitte setzt als komische Alte einen furiosen Schlusspunkt. Kleist lebt – diese sehr sehenswerte Aufführung tritt den Beweis an. BZ, Bettina Schulte)


Wallgraben Theater
Das kleine Schauspielhaus in Freiburg

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