Kritiken

Die Göttliche Komödie und Johann Sebastian Bach von Tim Lucas

Badische Zeitung vom 06.04.2010

Man kann es drehen und wenden, wie man will: Es gibt im Prinzip keine historischen Berührungspunkte zwischen Dante Alighieris "Göttlicher Komödie" und Johann Sebastian Bachs Sonaten und Partiten für Solovioline. Außer man schafft sie. Hier die absolute Musik, changierend zwischen kühner, rhapsodischer Freiheit und tänzerischer Verspieltheit – dort die mindestens ebenso kühne, rund 400 Jahre ältere dichterische Faktur. Wo ist da das tertium comparationis – das Verbindung stiftende Element? Tim Lucas und Ildiko Moog-Ban geben die Antwort: in der Harmonie und Geschlossenheit der jeweiligen künstlerischen Anlage.

Die beiden Genies Dante und Bach begegnen sich postum innerhalb eines schmalen Zeitfensters jenseits ihrer Zeitalter im ausverkauften Freiburger Wallgraben-Theater. Und sie berühren sich, bildlich gesprochen, wie Michelangelos Gottvater und Adam in der Sixtinischen Kapelle – nur einen Fingerzeig, aber in offenbar tiefstem ursächlichem Kontext. Diese Momentaufnahme ist auch Sinnbild für die musikalische Lesung. Man kann die Größe der Werke nur erahnen, denn sie begegnen einem – nur – in Auszügen. Dantes 15 000 Verse umfassendes Gedicht und Bachs sechs Solostücke: Würde ihre Vollständigkeit sie dem Zuhörer mehr habhaft machen? Wohl kaum. Hier geht es um eine ästhetische Annäherung, um assoziative Berührungspunkte, um Synästhesie. Wie klingt die literarische Vision des Jenseits auf der Geige, wie korrespondieren Dantes Hölle, Purgatorium und Paradies mit der in ihrem Absolutheitsanspruch unbefleckten Musiksprache eines Johann Sebastian Bach?


Ildiko Moog-Ban und Tim Lucas nehmen für sich die künstlerische Freiheit der freien Zuordnung, des Weglassens und Straffens in Anspruch. Die dreiteilige Struktur von "La Comedia" bleibt. Die Musik illustriert diese Jenseitswelten, oder sie antwortet darauf. Auf die Schrecknisse des Siebenten Rings des Fegefeuers zum Beispiel folgt die Sarabande aus der d-Moll-Partita Nr. 2: ein Stück tröstender Trauer, von Moog-Ban ganz schlicht, ganz kontemplativ vorgetragen, ausklingend mit dem Grundton auf der Leersaite. Die langjährige Konzertmeisterin des Philharmonischen Orchesters, die seit ihrer Pensionierung ihren Wirkungskreis in die Türkei verlegt hat, tritt nicht mit einer historisch informierten, authentischen Interpretation an, sondern setzt ihren persönlichen künstlerischen Ausdruck vor alle "Ismen". Der intime Rahmen macht die Anspannung spürbar. Produktive Anspannung, wie sie auch in Tim Lucas’ hochkonzentriertem, eine wohltuend konservative Sprachästhetik pflegendem Textvortrag zu vernehmen ist. Und in den sparsam dosierten melodramatischen Momenten, da Sprache und Musik eine Allianz eingehen, scheinen alle ganz eng und wie selbstverständlich verbunden: Dante, Bach, die Künstler – und das Publikum.(Alexander Dick, BZ)



Wallgraben Theater
Das kleine Schauspielhaus in Freiburg

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