Kritiken

Unwiderstehlich von Fabrice Roger-Lacan

Badische Zeitung vom 16.11.2010

Verstehen und Missverstehen

Zugegeben, die Texte der deutschen Rockband Rammstein sind mir nicht vertraut. Deswegen habe ich auch "Du – Du hasst – Du hasst mich" verstanden, als die Stimme von Leadsänger Till Lindemann aggressiv den Zuschauerraum des Freiburger Wallgraben Theaters bebrüllt. Wie sich später herausstellt, geht es aber gar nicht um Hass. Die Zeilen heißen: "Du – Du hast – Du hast mich – Du hast mich gefragt – Du hast mich gefragt, und ich hab nichts gesagt." Ein Missverständnis – aber ganz sicher eines, mit dem sowohl die Berliner Hardrocker wie auch Regisseurin Heidemarie Gohde in dem grandios vielschichtigen Kammerspiel "Unwiderstehlich" des Franzosen Fabrice Roger-Lacan bewusst spielen.


Der Zuschauer wird noch öfters an diesem überaus spannenden, manchmal beklemmenden, immer wieder auch rasend komischen Abend in die falsche Richtung geschickt. Und mit Sprache – mit Verstehen oder eben Missverstehen – hat das eigentlich immer zu tun. Denn es geht – wenn auch nicht um Hass, so doch um zwei andere starke Gefühle: Um Eifersucht und Liebe. Jeder im Publikum weiß wohl, was da alles falsch laufen kann!
Die namenlosen Protagonisten dieses Dramas sind ein Anwalt (Hans Poeschl) und eine Lektorin (Regine Effinger). Seit vier Jahren sind sie verheiratet – und sie lieben sich. Glücklich allerdings sind sie nicht, denn er ist eifersüchtig. Krankhaft, obsessiv eifersüchtig und obendrein, wie er selber einmal sagt: "Ein paranoider Waschlappen". Das Stück beginnt harmlos, als sie nach einem langen Arbeitstag nach Hause kommt, wo er im Tennisdress sein Plädoyer in einem gruseligen Tötungsdelikt vorbereitet: Ein Mann hat seine Frau getötet – und die Leiche verspeist. Aus Liebe, ist der Anwalt überzeugt...


Eigentlich ist das Paar verabredet, gemeinsam ins Theater zu gehen, doch dazu kommt es nicht. Denn er will wissen, wie der Tag mit dem von ihr doch so verehrten Schriftsteller (und Frauenheld) war, der seinen nächsten Roman in ihrem Verlag herausbringt. Sie gibt zu, dass sie den Autor "ziemlich unwiderstehlich" findet, aber eben nur "ziemlich" – und überhaupt hat sie eine Einladung zum Essen abgelehnt, nicht zuletzt, weil sie ja mit ihm verheiratet ist.


Die Ehe ist "vermodert"


Was nun folgt, ist ein Dialog, wie er absurder und perfider – aber auch realistischer und menschlicher kaum sein kann. Er redet sich (und sie) immer tiefer in den Wahn hinein, sie habe ein unwiderstehlich sexuelles Verlangen nach dem Schriftsteller, das sie sich nur aus Pflichtgefühl verkneife, weil sie ja zufällig mit ihm verheiratet sei. Solche Verhaltensweisen seien untrügliche Zeichen ihrer "vermoderten Ehe". Sie versucht es erst mit Vernunft, steht jedoch bald mit dem Rücken zur Wand, sieht sich genötigt, sich zu verteidigen, obwohl sie auch immer wieder seine "Taschenspielertricks eines Anfänger-Anwalts" erkennt. Es ist ein Genuss, den beiden Vollblutschauspielern Effinger und Poeschl bei dieser Auseinandersetzung, die nicht nur verbal ausgetragen wird, zuzusehen. Fast sichtbar stieben die Funken von Verletzlichkeit, Verzweiflung, Wut und Angst von der Bühne ins Publikum.
Apropos Bühne – es ist Zeit, das kluge Bühnenbild von Nathalie Michel zu erwähnen, auch, damit nicht zu viel vom weiteren Verlauf des Abends verraten wird, der noch feine wie plakative Wendungen bereit hält – und absolut kein Horror-Ende! Die Wohnung, in der sich die Tragikomödie abspielt, ist ganz in schwarz und weiß gehalten. Die meisten Möbel sind aufgemalt, was an eine eine Comic-Kulisse erinnert. Doch verbergen sich hinter manchen aufgemalten Gegenständen auch tatsächliche Schubladen oder Kleiderhaken, scheint durch die aufgemalten Jalousien doch (echt) gebrochenes Licht. Die Klarheit des Raumes auf den ersten Blick widerspricht diametral der Unordnung in der Gefühlswelt des Paares, der immer wieder aufgebrochene Schematismus entlarvt zugleich des Anwalts Argumentation, die niemals aufgeht. Was aufgeht, ist das Konzept der Regisseurin, die sich auf die Stärke des Dialogstücks wie auf das Vermögen ihrer beiden Schauspieler, den Spannungsbogen über zwei Stunden zu halten, absolut verlassen kann. Großer Premierenbeifall (Heidi Ossenberg, BZ).


Wallgraben Theater
Das kleine Schauspielhaus in Freiburg

Wallgraben Theater

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79098 Freiburg

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Deutscher Bühnenverein