Kritiken

Love Letters von Albert Ramsdell Gurney

Badische Zeitung vom 11.01.2011

Sie ist aus reichem Haus, er aus gutem Haus. Er liebt es, Briefe zu schreiben, sie nicht. Er trifft seine auch im Rückblick meist korrekten Entscheidungen nach reiflicher Überlegung, sie ist spontan und chaotisch. Er fällt die Karriereleiter hinauf, sie stolpert von einem Loch ins nächste. Zwei Menschen, nicht gerade füreinander geschaffen, möchte man glauben.


Aber Gegensätze ziehen sich nunmal an: in diesem Fall schenkt Andy schon als Kind Melissa das Buch "Die verlorene Prinzessin von Oz"; sie malt zu Teenagerzeiten ein Bild, das ihn als Tanzbären zeigt. Wer über Melissa und Andy nachdenkt, stellt schnell fest, wie authentisch die Beziehung ist, die der amerikanische Dramatiker Albert Ramsdell Gurney in seinem 1988 uraufgeführten Theaterstück "Love Letters" seinen Figuren angedichtet hat. Denn: Jeder kennt doch Menschen, die einander fürs Leben weder finden noch jemals gänzlich voneinander lassen können. Fehlt der eine Teil, ist der andere unvollständig. Das Publikum im Wallgraben-Theater lernt Melissa und Andy über ihre Briefe kennen, die sie sich über einen Zeitraum von beinahe einem halben Jahrhundert schreiben.


Sybille Denker und Tim Lucas haben sich gemeinsam Melissa und Andy und den "Love Letters" genähert. Sie sitzen auf zwei Hockern auf einer ansonsten leeren schwarzen Kellerbühne und haben die Brieftexte vor sich auf Notenständern aufgestellt. Sie bestreiten diesen überaus kurzweiligen Abend jedoch nicht allein durchs Vorlesen. Ihre Mimik und ihre Gestig, ihr konsequentes Einander-nicht-Ansehen, macht den Abend zu einem Zwitter: Ein bisschen Schauspiel ist durchaus dabei. Und doch enthalten sich Denker und Lucas einer Inszenierung, sie schlüpfen nie ganz und gar in die Rollen der Figuren – bewahren vielmehr bei aller Empathie ganz bewusst und sehr respektvoll eine gewisse Distanz zu diesen beiden Briefpartnern.
Die in Briefen mitgeteilten Häppchen aus dem Leben von Melissa Gardner und Andrew Makepeace Ladd III. fügen sich im Laufe von eineinhalb Stunden zu einem Bild von dem, was das Leben auch für jeden Theaterbesucher ausmacht: Liebe und Glück, Missbrauch von Gefühlen und Tragödie, richtige Entscheidungen und falsche, Selbstvertrauen und Zweifel. Der Ton in den Briefen deckt die identische Palette ab: Er ist leicht und komisch, dann wieder tief ernst und traurig, ironisch und zynisch – dazu immer erfrischend direkt. Freilich: Auch außerhalb ihrer Briefe sind Melissa und Andy sich begegnet – wovon ihre "Love Letters" wiederum künden. Doch an diesen Begegnungen sind sie nie gewachsen – an ihren für die Ewigkeit aufgeschriebenen Worten füreinander schon.


Wallgraben Theater
Das kleine Schauspielhaus in Freiburg

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