Kritiken

Nur Nachts von Sibylle Berg

Badische Zeitung vom 15.04.2011

Sie leben eben so

„Einen zu finden, der einen erträgt, und einen zu ertragen, ist besonders.“ Das ist wohl eine typische Sibylle-Berg-Reaktion auf die resigniert klingende Feststellung einer Journalistin, dass das mit der Liebe „alles gar nicht so wahnsinnig besonders“ ist. Abgedruckt ist dieser kurze Dialog zwischen der für ihren ätzenden Zynismus bekannten Schriftstellerin und Juliane Rusche im Programmheft zu „Nur Nachts“, der neuesten Produktion des Freiburger Wallgraben-Theaters.  In Bergs 2010 am Burgtheater Wien uraufgeführter Komödie geht es viel ums Ertragen-Können – und um Liebe. In dieser Kombination mag das Thema so manchen Wallgraben-Besucher ein wenig überrumpelt haben. Aber nicht nur für die Tatsache, dass „Nur Nachts“-Regisseur Hans Poeschl Sibylle Berg endlich nach Freiburg geholt hat, sondern auch, mit welcher leichten Hand er das – zugegeben dialoglastige – Stück auf der Kellerbühne eingerichtet hat, gebührt ihm und dem Wallgraben-Team Anerkennung. Klar, die Atmosphäre ist weniger ungezwungen als bei einem Boulevard-Zweiakter britischer oder französischer Couleur – aber davor darf dem Traditionstheater nicht bange sein! Und darum geht es: Peter, Ende 40, ist in der Werbebranche beschäftigt und Single. Auf einer Party lernt er Petra, Mitte 40, kennen. Auch sie lebt allein und „arbeitet ungern in einer Exportfirma“. Die beiden haben nichts, wofür es sich lohnte, in Neidstarre zu verfallen: keine Schönheit, keinen Reichtum, keine sprühende Intellektualität. Sie leben eben so. Vier Wochen lang treffen sich Peter (eine echte Entdeckung: Dietmar Kwoka) und Petra (klasse komisch ihre gespielte Mittelmäßigkeit: Petra Hennig), um anschließend folgenden Zeitplan auszumachen: Nach weiteren sechs Tagen – und Nächten – werden sie ihr bisheriges Leben aufkündigen und gemeinsam in eine fremde Stadt ziehen. Doch da gibt es eine Instanz, die Peter und Petra dieses mögliche späte Glück, vor dem sie selber eine Heidenangst haben, so gar nicht gönnt.


Zirkusdirektor mit gelbem Kochlöffel


Diese Figur, von Sibylle Berg „Einsatzleiter“ genannt, ist bei Hans Poeschl eine Mischung aus Mephisto und einem Zirkusdirektor. Und: wie für Regine Effinger geschaffen. Mal listig, mal despotisch, immer spöttelnd, niemals dröge moralisierend begleitet ihr Einsatzleiter im Glitzerkostüm mit Zylinder und gelbem Kochlöffel in der Hand das Paar, das sie mit folgenden Worten charakterisiert: „Mopsfidele Kameraden, die ihr Elend im anderen erkannten.“ Treffender geht’s nicht!

Ein wenig an Charles Dickens’ „A Christmas Carol“ erinnern die beiden Gehilfen des Einsatzleiters: zwei Geister (wunderbar agil: Gabriele Zink und Ives Pancera), die dafür zuständig sind, Peter und Petra die sechs Nächte zur Hölle zu machen. Die Prüfungen sollen die (gar nicht so tief) verborgenen Ängste und Unsicherheiten von Peter und Petra sichtbar machen und verhindern, dass das Paar gemeinsam ein neues, womöglich schöneres Leben beginnt. Da wird auf der zweigeschossigen Bühne, die unten zwei karge Schlafzimmer beherbergt, vom Schicksal später Elternschaft erzählt – und vom Schrecken, keinen Funken Zuneigung für die Zwillinge zu verspüren. Da wird Sozialneid geschürt, indem die Geister im Traum die Rollen von beruflich erfolgreichen, sozial engagierten, privat glücklichen Freunden einnehmen und Peter und Petra ihre Schwächen und Defizite noch deutlicher vor Augen führen. Oder eine Urlaubsszene mit dementen Schwiegereltern avisieren. Schließlich, in der Darstellung besonders bitter-komisch, wird das Leben im Pflegeheim durchgespielt, das in der Erkenntnis mündet: „Wir werden nicht weiser, sondern einfach müde.“ Bringen Peter und Petra trotz der ihnen aufgezwungenen Hauptrollen in diesem kleinen Horrorladen den Mut auf, an ihrem Plan festzuhalten? Wäre „Nur Nachts“ vor zehn Jahren entstanden, hätte man diese Frage getrost mit „Niemals!“ beantworten können. Aber auch Sibylle Berg gehört nun in die Kategorie „jenseits werberelevanter Zielgruppen“ – und das Alter scheint sie milder, vielleicht auch nur müde gemacht zu haben. Oder: Ist der Schluss vielleicht nur kitschig? Das Publikum belohnt den unterhaltsamen wie nachdenklich stimmenden Abend mit viel Applaus. (Heidi Ossenberg, BZ)


Wallgraben Theater
Das kleine Schauspielhaus in Freiburg

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